Ich stehe inmitten von tanzenden Menschen, die ihre Arme in die Luft strecken und weiße Tücher im Takt der Musik kreisen lassen. Ihre Gesichter leuchten. Alle singen lauthals mit, so gut wie alle kennen den Text, und zwar jedes Wort – und wer ihn nicht kennt, singt einfach, soweit er kommt, und feiert trotz der Wissenslücken ausgelassen mit. Denn darauf kommt es an: dieses Fest gemeinsam zu genießen.
Ich habe kein Taschentuch, keine Tanzpartner und null Ahnung von den Liedzeilen. Aber die überschäumende Fröhlichkeit steckt mich an. Mehr als zwanzigtausend Menschen tanzen vor der Bühne, alte, junge, Männer, Frauen, Familien mit kleinen Kindern, allein, in Formationen.
Rechts vor der Bühne sehe ich eine Gruppe junger Leute, die sich hinreißend bewegen. Im Gleichschritt zelebrieren sie den currulao, den Tanz der Pazifikküste, in dem die Männer die Frauen umwerben. Die Frauen tragen weiße Tücher im Haar, die Männer haben ausrasierte Schläfen; der Vortänzer, dem sie folgen, bewegt seinen Körper in Wellen, wie eine Schlange.
Das Publikum ist größtenteils schwarz, denn dies ist Petronio Álvarez: das größte Festival afropazifischer Musik in Kolumbien, so benannt nach dem gleichnamigen Eisenbahnmaschinisten, Poeten und Musiker, der 1966 in Cali starb. Seit zwanzig Jahren findet es immer im August in Cali statt, und jedes Jahr zieht es mehr Besucher an.
Tänzer from Alexandra Endres on Vimeo.
„Es ist der einzige Ort, den wir haben, um unsere Kultur zu zeigen“, sagt mir eine junge Sängerin. Früher habe die Musik der Schwarzen im Land nichts gegolten, doch das habe sich geändert. „Jetzt kommen Besucher von überallher in die Pazifikregion, um von uns zu lernen. Unsere Folklore ist nicht tot.“
Mit dem Petronio-Festival könne sie sich identifizieren, sagt sie. Die Besucher tun das auch, das kann man spüren. Was da auf der Bühne gespielt wird, ist ihre ureigene Musik. Deshalb kennen sie die Lieder Wort für Wort. Und deshalb hören sie nicht auf zu tanzen, bis die letzte Note verklungen ist.
Viele Musiker nehmen eine beschwerliche Anreise in Kauf, um auf dem Petronio spielen zu können. Manche zahlen ihre Reise selbst – und weil ein Flug zu teuer wäre, brauchen sie Stunden, um aus ihren Heimatorten an der Küste per Boot und Bus nach Cali zu gelangen. Nicht immer haben die Boote Platz für alle im Trockenen unter Deck. Aber weil sie ein Jahr lang für diese fünf Tage geprobt haben, lassen die Musiker sich auch von tropischen Regengüssen, übervollen Bussen und durchnässten Kleidern nicht beirren.
Ich habe das Glück, hinter der Bühne eine junge Cantaora sprechen zu können. Es ist kurz vor ihrem Auftritt, die Musiker ihrer Band legen schon ihre Kostüme an, die Sängerinnen schminken sich nervös. Livia Susanne Sinisterra aber, sechsundzwanzig Jahre alt, aus Guapi im Departement Cauca, nimmt sich ein paar Minuten für mich Zeit.
Livia Sinisterra, Cantaora from Alexandra Endres on Vimeo.
Sie kommt aus einer musikalischen Familie. Ihre Onkel waren Musiker, die Großmutter und Urgroßmutter Cantaoras. Von ihnen hat sie gelernt, sagt sie.
„Cantaoras singen, um die Arbeit auf dem Land zu erleichtern. Um den Schmerz zu vertreiben, wenn jemand von einer Schlange gebissen wird. Sie singt den Heiligen zu Ehren und wenn etwas Neues passiert.“
Guapi sei eine Kommune, die sehr unter der Gewalt gelitten habe. „Wir wollen dem etwas entgegensetzen“ – Musik. Ihre Gruppe gehört zu einer Musikschule, die mit Kindern arbeitet, um die alten Traditionen lebendig zu halten.
„Wir wollen zeigen, dass es möglich ist, mit konstruktiven Beiträgen ein Land aufzubauen. Hoffentlich bringt der Friedensprozess Besserung.“ Dann singt sie für mich ein Lied von den Fischern des Guapi-Flusses.
Das Festival Petronio Álvarez findet jedes Jahr im August im Cali statt – derzeit gerade wieder, und zwar noch bis zum 21. August.
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Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Wer singt, erzählt – Wer tanzt, überlebt“, erschienen im DuMont Reiseverlag. 256 Seiten; 14,99 Euro