Bisher dachte ich, Lohnschreiber – auf Spanisch Escribanos – seien eine Erscheinung längst vergangener Zeiten, auf nostalgische Art höchstens noch existent in der lateinamerikanischen Literatur. Jetzt habe ich einen von ihnen kennengelernt. Er war ziemlich pragmatisch und sehr real: Germán Martínez, 58 Jahre, Lohnschreiber in Cali.
Tag für Tag sitzt Germán im Parque de los Poetas vor der Kirche la Ermita, im Zentrum der Stadt, unter einem rot-grün-blau-weißen Sonnenschirm und empfängt seine Kunden. Seine Handynummer hat er weithin sichtbar in großen schwarzen Ziffern auf den Schirm geschrieben. Mehr Werbung ist nicht, den Rest erledigt die Mund-zu-Mund-Propaganda.
„Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, dass…“: Die Escribanos von Cali schreiben offizielle Briefe für ihre Kunden, erledigen die Steuererklärung, helfen in juristischen Fragen. Anwälten oder Notaren aber sind sie nicht gleichgestellt. Die haben ein Studium abgeschlossen. Germán hat das Abitur.
Mit 17 hat er angefangen, als Schreiber zu arbeiten. Zuerst hat er Botengänge für einen älteren Kollegen erledigt, später überließ der Kollege ihm in den Mittagspausen seinen Arbeitsplatz. Alles, was ein Escribano wissen muss, hat Germán sich seither selbst angeeignet. „Das hier ist die Uni der Straße“, sagt er.
Sein Freiluft-Arbeitsplatz ist spartanisch eingerichtet. Der Sonnenschirm, zwei Plastikstühle, das Handy, ein metallener Mini-Schreibtisch, die Papiere in der Schublade. Auf dem Tischchen eine Jahrzehnte alte mechanische Schreibmaschine. Mehr braucht Germán nicht. Er tippt mit zwei Fingern, „aber schnell!“
Einen Computer, Internetzugang? Für seine Arbeit überflüssig, findet Germán. Die jungen Leute verstünden davon vielleicht viel, sagt er, aber sie wüssten nichts von dem, worauf es wirklich ankomme. „Gute Texte formulieren, das können sie nicht. Das übernehmen wir.“
Seit 150 Jahren gebe es die Lohnschreiber von Cali schon, sagt Germán. Aber es werden immer weniger. Einst saßen 55 weitere Escribanos mit ihm auf dem Platz, heute sind es nur noch 18. Wenn ein Escribano stirbt, vergebe die Stadtverwaltung keine neue Genehmigung mehr für seinen Freiluft-Arbeitsplatz, sagt Germán. Die Schreiber wollen dagegen vorgehen. Wie sind die Chancen? „Abwarten.“
Er kann sich keine andere Arbeit vorstellen, trotz der Hitze auf dem Asphalt, des Lärms, des Staubs, des Regens, der manchmal über dem Parque de los Poetas niedergeht. „Ich muss an der frischen Luft arbeiten. Drinnen schlafe ich ein.“ Für seine Kinder und Enkel wünscht Germán sich trotzdem einen anderen Job. Bisher sieht es nicht aus, als würde ihm aus seiner Familie jemand nachfolgen.