Sie dachten, ich sei auch Ärztin. Ich hatte mich an eine Gruppe von Medizinern drangehängt, fast alles Freiwillige, die durch die Guajira reist, um die Kinder der Wayúu zu behandeln. Wenn sie nicht in die Siedlungen der Wayúu kommen, gibt es niemanden, der sich dort um die Gesundheit der Leute kümmert.
Die Guajira ist eine gottverlassene Region. Eine Halbwüste, heiß, windig, ohne große Infrastruktur, und seit Jahren regnet es dort kaum. Der Wind wirbelt die Erde auf, und bis zum Ende des Tages hat sie sich überall festgesetzt: auf dem Gesicht, unter der Kleidung, im Mund, zwischen den Zähnen. Unmöglich, sie loszuwerden.
Fließendes Wasser gibt es natürlich nicht, die Brunnen sind 130 Meter tief und führen nur Brackwasser, und wer sauberes Wasser will, muss dafür stundenlang in sengender Hitze durch die Gegend wandern. Wer Glück hat, kann ein Maultier mitnehmen, das gleich ein paar volle Kanister transportiert. Wer Pech hat, besitzt kein Maultier und geht mehrmals selbst, oder gibt sich mit der brackigen Brühe des Brunnens in der Nähe zufrieden. Hier wachsen vor allem Kakteen und Bäume mit sehr dünnen, fedrigen Blättern. Je weiter man nach Norden kommt, desto dürrer sind sie, und desto grauer, wegen des Staubs.
Die Wayúu haben ihre Lebensweise im Großen und Ganzen hervorragend an die Unwirtlichkeit angepasst. Ihre Nation stammt aus Venezuela, von wo aus sie sich bis zum Fuß der Sierra Nevada de Santa Marta ausgebreitet hat.
Es sind Krieger, ganz anders als die benachbarten Arhuaco. Heute leben in Kolumbien geschätzt 145.000 Wayúu. Sie sind das größte indigene Volk im Land.
Wie gesagt: Im Großen betrachtet, hat das mit der Anpassung hervorragend geklappt. Im Kleinen aber klappt es nicht (mehr). Viele Kinder sind hier unterernährt, manche sterben. Wie viele? Unmöglich, das zu beziffern. Woran es liegt? Schwer zu sagen. Ohne Wasser kann man jedenfalls nicht überleben. Wasser ist hier knapp wie sonstwas – aber die Korruption auch so schlimm wie in wenigen anderen kolumbianischen Regionen.Wir fuhren kilometerweit über eine platte Erdpiste, deren Asphaltdecke schon zweimal bezahlt worden sei, wie meine Begleiter mir sagten. Zu sehen war davon nichts, außer ein paar Vermesser, die am Pistenrand herumstanden und die Gegend vermaßen.
Ein wichtiger Fluss der Region ist gestaut. Weiter unten sei das Flussbett deshalb trocken, sagen die Wayúu. Zudem bringt der Kohlebergbau in der Region – in der Guajira liegt einer der größten Steinkohlegruben der Welt – den Wasserhaushalt völlig durcheinander. Es scheint aber auch soziale oder kulturelle Gründe für die Unterernährung zu geben. Wir sahen eine junge, augenscheinlich gesunde Mutter, die mit zwei völlig unterernährten Kindern zur Sprechstunde kam.
Die Wayúu jedenfalls haben jetzt den Staat verklagt, damit der nicht nur Nothilfe schickt wie bisher, sondern an die Wurzel des Problems geht.
Der Ärztetrupp, mit dem ich unterwegs war, maß und wog die Kinder, nahm ihnen Blut ab, hörte sie ab, leuchtete in Mund, Nase und Ohren und gab – je nach Diagnose – Antibiotika, Mittel gegen Parasiten, Vitamine. Eine Firma schickte literweise Wasser in durchsichtigen Plastiktüten, die Kinder schleppten sie nach Hause. Wir haben drei Siedlungen besucht, und in einer sagten mir die Ärzte, die Rate der Unterernährung unter den Kindern sei in den vergangenen sechs Monaten stark zurückgegangen. Von 45 Prozent auf etwa 33 Prozent, immerhin.
Die Siedlung heißt Guarralakatshi. Hier lebt Kendrys, 22 Jahre alt, Wayúu und gelernte Krankenschwester. Für die Ärzte ist sie eine wichtige Vermittlerin. Die Wayúu sind Weißen gegenüber sonst nicht so aufgeschlossen. „Sie haben nie gehalten, was sie uns versprochen haben“, sagt Kendrys. „Aber wir lassen uns nicht mehr manipulieren.“
Wie leben die Wayúu denn so, Kendrys? Die Frauen kümmern sich um Haus und Kinder, und sie häkeln Mochilas, sagt Kendrys. Mochilas sind die traditionellen bunten Umhängetaschen der Wayúu. Die Männer sind mit den Ziegen unterwegs, oder sie fischen. Eigentlich seien die Männer aber ziemlich faul. Dabei sind bei den Wayúu Frauen die Oberhäupter der Clans. „Die Männer lassen sich gerne bedienen. Die Frauen müssen kochen. Die Männer bestehen dann beim Essen auf der größten Portion.“
Macht ihr Mann das genauso? Bei der Frage muss Kendrys lachen. Nein, sagt sie. Ihr Mann helfe beim Kochen, „auch wenn sie im Dorf dann sagen, dass er unter meiner Fuchtel steht. Aber das stimmt nicht.“ Die Zeiten änderten sich eben: „Die modernen Frauen haben gelernt, ihre Kinder statt der Männer zuerst zu versorgen. Deshalb gibt es im Dorf jetzt weniger unterernährte Kinder.“
Haben die Wayúu besondere Feste? Keine, sagt Kendrys, außer vielleicht wenn der Schamane zu einem Kranken gerufen werde. „Dann schließt er sich mit dem Kranken ein. Wir anderen draußen sorgen dafür, dass alle zu essen haben. Und wir tanzen zur Trommel.“
Aber zu ihrer Hochzeit vor sieben Monaten, da gab es doch bestimmt eine besondere Zeremonie? Keineswegs, sagt Kendrys. „Wir haben einfach geheiratet.“
Seither lebt sie mit der Familie ihres Mannes und hat ihre Eltern nicht mehr gesehen. Sie müssen zuerst den Brautpreis an die Schwiegereltern zahlen, sagt Kendrys. „Ich habe eine gute Ausbildung. Von der hat jetzt meine neue Familie was, aber meine Eltern nicht mehr.“ Dafür muss die neue Familie zahlen. Kendrys‘ Eltern verlangen ein Maultier, eine Goldkette, eine Halskette aus traditionellen Steinen und eine hohe Summe Geld.
Kendrys‘ neue Familie wird wohl nicht alles aufbringen können, jetzt laufen die Verhandlungen. Unterhändler ist der Palabrero, eine Art Mediator der Wayúu, dessen Job es ist, in allen möglichen Fällen Streit zu schlichten. Er pendelt zwischen den Konfliktparteien hin und her, überbringt Forderungen und Gegenargumente, bis eine Lösung gefunden ist. Bis ein Preis feststeht, heißt das bei den Wayúu.