Mexiko ist weiter in Aufruhr. Bei Protesten gegen die Regierung setzten Demonstranten in Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaats Guerrero, gestern das Hauptquartier der Regierungspartei PRI in Brand. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei; drei Menschen wurden verletzt. Auch anderswo eskalierten die Proteste in Gewalt.

Die Menschen verlangen Aufklärung über das Schicksal der verschwundenen 43 Studenten, und sie misstrauen dem Staat, denn das Verbrechen an den 43 legt die unguten Verflechtungen zwischen Mafia, Politik und Gesellschaft schonungslos offen. Was wird als nächstes geschehen? Niemand weiß es. Hier eine (unvollständige) Liste von Texten, die helfen, die mexikanische Tragödie zu verstehen.

Warum mussten die Studenten sterben? Sie behinderten das Geschäft der Mafia, weil sie unbotmäßig waren, schreibt Jan Martínez Ahrens in der Tageszeitung El País (alle Zitate meine Übersetzung):

(Die neue Generation der Kartelle) hat sich vom Drogengeschäft als prinzipieller Einnahmequelle verabschiedet. Den Experten zufolge erzielen sie jetzt ihre Gewinne mit Erpressung, Raub und Entführungen. Es sind drei Delikte, die ihnen die Herrschaft über das Territorium beschert haben, die aber den ständigen Einsatz von Gewalt erfordern, um diese Dominanz zu erhalten.

Woher kommt die Empörung gegenüber dem Staat? Die Regierung tut so, als gehe sie das Verbrechen nichts an, schreibt Eva Usi für die Deutsche Welle (spanischer Dienst), und die Justiz unternimmt nichts, um den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Usi zitiert den Experten Edgardo Buscaglia:

Man kann nicht zulassen, dass die Fälle der 43 jungen Leute und der 26.000 anderen Verschwundenen weiter durch das mexikanische Justizsystem untersucht werde. Es ist paralysiert. Auf 100 Delikte kommt den konservativsten Schätzungen zufolge nur ein Urteil.

Und der Menschenrechtler Abel Barrera sagt zu ihr:

Die Behörden folgen leider einer (reinen) Machtlogik. Sie wollen die Schäden kontrollieren, um den Ärger zu dämpfen, der in unserem Land wächst. Es gibt eine große Empörung gegenüber der nationalen Regierung, die mit dem organisierten Verbrechen verflochtene Behörden aller Ebenen geschützt und gedeckt hat.

Da hilft es nicht, dass der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto zum Apec-Gipfel gereist ist, statt sich zu Hause der Kritik zu stellen – und dass gerade jetzt lästige Details über das Wohnhaus seiner Familie bekannt wurden. Die Villa soll sieben Millionen Dollar gekostet haben, und sie gehört nicht dem Präsidenten selbst, sondern einer Firma, mit der seine Regierung lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Details im Guardian und auf der mexikanischen Nachrichtenseite Aristegui Noticias, deren Recherchen die engen Beziehungen zwischen dem Präsidenten und dem Unternehmen ans Licht brachte.

Zwar gebe auch ein anderes Mexiko, schreibt Sebastian Schoepp für die Friedrich-Ebert-Stiftung.

In der Tat befindet sich das Land gerade in einem epischen Ringen, das zwischen dem alten und dem neuen Mexiko ausgetragen wird: Das neue Mexiko hat ehrgeizige Klimaziele, die meisten Freihandelsabkommen der Welt, ist ein beliebter Industriestandort und hat eine durch Sozialprogramme wachsende Mittelschicht, die zunehmend Lebensqualität, saubere Luft und sauberes Wasser einfordert. Das alte Mexiko, das sind die finsteren Clans, die vom Drogenhandel leben und weite Teile des Landes terrorisieren. Ein Gegensatz, den man auch in anderen Ländern Lateinamerikas findet, etwa in Kolumbien, das ebenfalls eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung mitmacht, aber gleichzeitig seinen anachronistischen Guerillakrieg nicht beenden kann.

Aber Schoepp erklärt ebenfalls:

Im Kampf des neuen Mexiko, der aufgeklärten und zukunftshungrigen Zivilgesellschaft, gegen die blutrünstigen Zombies des alten Mexiko und ihre feudalistisch strukturierten Kartelle steht es bestenfalls unentschieden.

Seit Expräsident Felipe Calderón seinen Drogenkrieg begann, hat es viele Massaker gegeben. Meist wurden sie von den Behörden unter den Teppich gekehrt. Es wurde so getan, als gehörten die Opfer alle zu rivalisierenden Drogenbanden, selbst wenn dem offensichtlich nicht so war. Warum ruft gerade der Fall der 43 so viel Empörung hervor? Francisco Goldman dazu im Magazin The New Yorker:

In der Vergangenheit haben die Regierungsbehörden und viele in den ihnen nahestehenden Medien sich verhalten wie in einem alten Drehbuch: Sie stigmatisierten die Opfer, zeichneten sie als die Verantwortlichen ihres Schicksals, oder wiesen darauf hin, dass es keine „normalen Mexikaner“ seien. Manche haben versucht, das gleiche mit den Verschwunden 43 zu tun, aber die Anschuldigungen und Andeutungen verfangen nicht. Die meisten Studenten waren Teenager in ihrem ersten Studienjahr. Sie kamen aus armen Gemeinden, mit denen sich eine Mehrheit der Mexikaner identifizieren kann; man kann sie nicht glaubwürdig als „Guerrilla“ oder „Narcos“ kriminalisieren.

Ohne tief reichende Reformen wird der Regierung wohl schwer fallen, die Empörung zu dämpfen. Der mexikanische Historiker und Autor Enrique Krauze sieht sein Land in der New York Times an einem Scheideweg:

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Chancen der Demokratie in Mexiko davon abhängen, (was jetzt passiert.)