Aus brennenden Reifen steigt schwarzer Rauch. Flammen schlagen aus Häusern, über den Straßen wabern Tränengasschwaden. Vermummte Demonstranten suchen Deckung hinter Mauern und Schildern, sie werfen Steine und Molotowcocktails; Polizisten schießen – angeblich mit Gummikugeln – zurück. Ein Mönch und eine Nonne versuchen, im Chaos zu vermitteln. Sanitäter kümmern sich um blutende Verletzte. Ein 15-jähriger Junge soll unter ihren Händen gestorben sein.

Die Bilder und Nachrichten, die seit Mittwoch aus Nicaragua kommen, zeigen, wie die Gewalt in dem zentralamerikanischen Land eskaliert. Insgesamt gab es wohl mindestens ein Dutzend Tote. Viele Menschen wurden verletzt. Die Regierung schickt gegen die Proteste nicht nur Polizisten, sondern auch vermummte Schlägertrupps – und inzwischen offenbar auch Soldaten: Fotos, welche die Tageszeitung La Prensa und der Nachrichtenkanal100% Noticias auf Twitter verbreiten, zeigen Uniformierte in der Stadt Estelí und anderen Orten des Landes, wie die beiden Medien berichten. Auch der Radiosender ABC zeigte – auf Facebook – Fotos von Soldaten in Estelí. Unbestätigten Informationen zufolge rollen in Managua und anderswo auch Panzer.

Es sollen die bislang heftigsten – und gewalttätigsten – Proteste gegen die sandinistische Regierung unter dem Präsidenten Daniel Ortega und seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo sein. Aber die Lage ist schwer zu überblicken, denn die Regierung geht nicht nur gegen die Demonstranten vor, sie schränkt auch die Berichterstattung ein. Der Fernsehsender 100% Noticias ist nicht mehr über Kabel zu empfangen, aber seine Journalisten twittern weiter, und die Website ist noch am Netz.

Die Regierung habe verlangt, dass100% Noticias nicht über die Proteste berichten solle, erklärte der Chef des Senders, Miguel Mora, schon am Mittwoch via Twitter. Mehrere Journalisten, die über die Proteste berichteten, wurden gewaltsam angegriffen; Kameras und andere Ausrüstungsgegenstände wurden ihnen geraubt. In der Nacht von Freitag auf Samstag brannte dann das Gebäude des oppositionsnahen Radiosenders Darío in der Stadt León – aber auch das Haus der sandinistischen Jugend in der Stadt Chinandega stand in Flammen.

Auslöser der Proteste waren offenbar Pläne der Regierung zur Rentenreform, die am Mittwoch offiziell verkündet wurden. Die nicaraguanischen Rentenkassen sind seit Jahren chronisch klamm. Um sie zu sanieren, sollen die Bezüge der Rentnerinnen und Rentner um fünf Prozent gekürzt werden. Zugleich sollen die Beiträge, die Arbeitnehmer und Unternehmen zahlen, deutlich steigen. Das sei nötig, sagen die Behörden, um die laufenden Renten garantiert auszahlen zu können, eine Privatisierung des Systems zu vermeiden und die medizinische Versorgung der Rentnerinnen und Rentner zu verbessern.

Kritiker aber geben der Regierung selbst die Schuld an der Finanzmisere. Ihre Funktionäre hätten die Rentenkassen schlampig verwaltet und sie außerdem genutzt, um „zweifelhafte Investitionsprojekte von dem Präsidenten nahestehenden Personen“ zu finanzieren, schreibt etwa die spanische Tageszeitung El País unter Berufung auf oppositionsnahe nicaraguanische Medien. Deshalb gingen Studierende, Rentner und Unternehmer jetzt gegen Ortega auf die Straße.

Offenbar war die Rentenreform nur ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hinzu kam ein Feuer, das tagelang in einem tropischen Nationalpark brannte – angeblich, ohne dass die Behörden nennenswert dagegen vorgegangen seien. „Erinnert Ihr euch, als man sagte, dies sei wie ein Dampfkochtopf (unter zu viel Druck), der eines Tages auf einmal explodieren würde? Eben das ist gerade passiert“, twitterte der nicaraguanische Journalist Wilfredo Miranda Aburto.

Auch Bauern haben sich den Protesten angeschlossen. Sie protestieren gegen den Nicaragua-Kanal, ein intransparentes Megaprojekt, mit dessen Bau die Regierung vor fünf Jahren einen chinesischen Investor beauftragt hat – gegen weitreichende Vollmachten. Die Opposition spekulierte schon damals, der Damm diene wohl eher dem Wohl des Präsidenten als dem des Landes. Schon länger werfen Kritiker Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega und seiner Frau (und Vizepräsidentin) Rosario Murillo vor, ihre Macht vor allem zur Bereicherung ihrer selbst, von Familie und Freunden zu nutzen.

Dabei waren Daniel Ortega und seine Leute einst die Helden der Linken weltweit. Im Jahr 1979 stürzten die Kämpfer der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua den Diktator Anastasio Somoza, dessen Familie das Land jahrzehntelang ausgebeutet hatte. Daniel Ortega, einer der wichtigsten Anführer der Sandinisten, wurde Mitglied der neuen Regierungsjunta.

1981 stieg Ortega zum Koordinator der Regierungsjunta auf und wurde damit der mächtigste Mann des Landes. Damals, mitten im Kalten Krieg, galt Nicaragua für viele als Vorbild im Kampf für eine bessere Welt. Die Sandinisten verteilten Land an die Bauern, schickten Alphabetisierungsteams in die Dörfer, förderten die Gleichberechtigung der Frauen. Sie gaben viel Geld für Impfkampagnen und für den Bau öffentlicher Krankenstationen auf dem Land aus.

Doch im Jahr 1981 wurde Nicaragua auch zum Schauplatz eines der wichtigsten Stellvertreterkonflikte zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion. Sandinisten kämpften gegen die mit Waffen aus den USA ausgerüsteten und von der CIA unterstützten Contras. Zehntausende starben. Der Krieg dauerte acht Jahre, und in dieser Zeit solidarisierten sich auf der ganzen Welt kirchliche und andere politische Gruppen mit den Sandinisten. Auch die Popkultur war Teil der Bewegung: Die britische Band The Clash benannte ein Album nach den Sandinisten.

Bis 1990 war Ortega Nicaraguas Präsident. 2007 wurde er wiedergewählt und seither zwei weitere Male im Amt bestätigt – zuletzt, trotz Manipulationsvorwürfen, im Jahr 2016.

Schon damals warf die prominente Schriftstellerin Gioconda Belli, einst selbst ein wichtiges Mitglied der Sandinisten, ihren ehemaligen Kampfgenossen Ortega und Murillo vor, unter ihrer Führung werde Nicaragua erneut zur Diktatur. Geoff Thale von der Menschenrechtsorganisation Washington Office on Latin America (Wola) lobte zwar die Erfolge Ortegas in der Armutsbekämpfung und Sozialpolitik, beklagte aber zugleich die „schrittweise Erosion der demokratischen Institutionen“ und einen „wachsenden Mangel an Transparenz“.

Die aktuellen Proteste seien die Folge von „Jahren der nicht erfüllten Forderungen und wachsender Repression und Zensur gegenüber oppositionellen Gruppen“, sagte Manuel Orozco vom eher wirtschaftsliberal orientierten Washingtoner Thinktank Inter-American Dialogue in der New York Times. Seit Daniel Ortega 2016 unter Manipulationsvorwürfen wieder zum Präsidenten gewählt worden sei, gebe es „eine offene Wunde“ in der nicaraguanischen Gesellschaft.

Vizepräsidentin Murillo kritisierte, die Demonstranten wollten „Frieden und Eintracht“ im Land zerstören. Sie bot Gespräche über die Rentenreform an. Präsident Ortega selbst hat sich noch nicht geäußert.

Gioconda Belli hatte vor zwei Jahren beschrieben, wie Rosario Murillo sich „in unsere Leben einprägt“. Die Vizepräsidentin hatte die Hauptstadt Managua mit weit über 100 riesigen, farbig beleuchteten Metallbäumen dekoriert, sodass die Stadt nachts „wie ein Vergnügungspark“ leuchte, schrieb Belli. Das sehe mehr wie eine Fantasie Walt Disneys aus als die Hauptstadt des ärmsten Landes auf dem amerikanischen Kontinent.

In den vergangenen Nächten wurden viele der Bäume von den Protestierenden umgestürzt. Es scheint, als seien der Präsident und seine Frau nicht mehr unantastbar.

Hinweis: Dieser Text erschien ursprünglich auf ZEIT ONLINE.