Warum massakrieren die Auftragsmörder des organisierten Verbrechens in Mexiko harmlose Studenten? Darauf gibt es mindestens zwei Antworten.
Eine kann man in der spanischen Tageszeitung El País lesen, der Artikel stammt vom vergangenen Wochenende. Er beschreibt die Verbindungen des Bürgermeisterpaars von Iguala zur Drogenmafia. Kurze Erinnerung: Iguala im Bundesstaat Guerrero ist die Stadt, in der am 26. September 43 Lehramtsstudenten verschwanden und sechs weitere Personen bei Zusammenstößen mit der Polizei umkamen.
Der Bürgermeister heißt José Luis Abarca Velázquez. Er soll, so schreibt es zumindest El País, vor gut einem Jahr angeordnet haben, einen politischen Widersacher zu entführen und zu foltern. Ein Augenzeuge habe miterlebt, wie der Bürgermeister selbst seinen misshandelten Gegner erschoss. Der Zeuge sagte aus, und er ließ seine Aussage von einem Notar dokumentieren. Die Behörden ermittelten – der Bürgermeister blieb im Amt.
Seine Frau, María de los Ángeles Pineda Villa, soll gute Verbindungen zum örtlichen Drogenkartell Guerreros Unidos haben. Am Tag, an dem die Studenten verschwanden, wollte sie in Iguala eine für ihre politische Karriere wichtige Rede halten. Die Studenten planten Proteste und wurden von der Polizei bereits erwartet. Die Order lautete, ihre Ankunft auf jeden Fall zu verhindern. Das mündete in Gewalt.
Die Studenten waren Bürgermeisters lästig, deshalb mussten sie verschwinden: Das ist die vordergründige Version der Ereignisse von Iguala.
Doch sie lässt eine zentrale Frage offen: Wenn das vermeintlich wichtigste Geschäft der Mafia (und ihrer Kumpane unter den örtlichen Politikern) der Drogenhandel ist, warum lässt sie Studenten ermorden, die mit dem Drogengeschäft rein gar nichts zu tun haben? Der Politikwissenschaftler Guillermo Trejo, spezialisiert auf die Erforschung des organisierten Verbrechens in Lateinamerika, beantwortet sie ebenfalls in einem Text für El País (Übersetzung von mir):
In Staaten wie Guerrero, Michoacán und Tamaulipas zielt das organisierte Verbrechen nicht mehr nur darauf ab, den Drogentransport zu kontrollieren. Es will die lokale Macht ergreifen, das heißt die Macht über die Kommunen und ihren Besitz. Um den Kampf gegen die Konkurrenz zu finanzieren, weitete das organisierte Verbrechen seine Operationen aus, zum Beispiel auf den Raub von Benzin, Erdöl und Gas, auf Erpressung und Entführungen…
Voraussetzung dafür, dass die Verbrecherbanden die lokale Macht übernehmen können, ist eine zersplitterte und verängstigte Gesellschaft. (…) Aber in Iguala gab es starke soziale und kommunitäre Bewegungen. In solchen Orten versuchen die kriminellen Gruppen, die gesellschaftlichen Gruppen durch Bestechung, Unterdrückung oder exemplarische Morde zu unterwerfen.
Auch das Massaker an den Studenten sei eine strategische und geplante Aktion gewesen, um die Menschen in Angst zu versetzen und so die eigene Macht zu festigen, eine „barbarische Handlung“, um allen klar zu machen, wer in Iguala das Sagen habe, schreibt Trejo.
Es gehe den Kartellen um die Konsolidierung ihrer Herrschaft, sagt auch der Kolumbianer Eduardo Salcedo-Albarán, ein anderer Spezialist für die Erforschung des organisierten Verbrechens. Im Moment aber scheint die durch die Morde in Iguala offensichtlich gewordene Straflosigkeit vor allem Wut ausgelöst zu haben: An diesem Montag zogen diversen Medien zufolge einige hundert Studenten und Lehrer zum Protest nach Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaates Guerrero. Dort steckten sie den Regierungspalast in Brand.
Aus dem Nachbarstaat Michoacán sollen rund 2.000 weitere Studenten auf dem Weg nach Guerrero sein. Sie fordern ebenfalls Aufklärung über das Schicksal der 43 Verschwundenen. „Wir werden nicht aufhören, bevor wir unsere Kommilitonen nicht gefunden haben“, sagte ein Studentenführer dem Reporter von El País. Das Verbrechen vom 26. September könnte erst der Anfang sein für eine neue Welle der Gewalt.