Zwischen dem Lärm und der Stille liegen sieben Stunden Taxifahrt. So schreibt es Lyonel Trouillot. Der Lärm, das sei Port-au-Prince. Nur wer schon beim Aufwachen den Kampf aufnehme, habe in Haitis Hauptstadt die Chance auf ein Leben. Der Schriftsteller muss es wissen; er lebt in Port-au-Prince. „Brot muss erjagt werden, wie Wild, und da es nicht genug für alle gibt, hat der Lärm die Hoffnung ersetzt“, heißt es in seinem Roman Die schöne Menschenliebe.
Die Stille, das ist ein imaginäres Dorf an der Küste. In Trouillots Roman bringt der Taxifahrer Thomas die junge Anaïse dorthin.
Anaïse kommt aus dem Ausland, aus Europa vielleicht, und ist auf der Suche nach ihrer Herkunft. Ihr Vater lebte einst in Thomas‘ Dorf, lange bevor Anaïse geboren wurde. Doch ihn kann sie nicht mehr befragen; er ist schon lange tot.
Über Haiti wird in den etablierten Medien vor allem berichtet, wenn wieder einmal eine Katastrophe zu verkünden ist. Das Land ist arm, und es gilt als nahezu unregierbar. Seit dem schweren Erdbeben des Jahres 2010 ist das erst recht der Fall. Abseits des Klischees von Armut, Chaos und Korruption aber interessiert sich kaum jemand für Haiti. Zum fünften Jahrestag des Bebens vor einigen Wochen gab es ein wenig Aufmerksamkeit (auch in diesem Blog), dann war wieder Funkstille. Man weiß wenig über Haiti.
Dabei gäbe es so viel mehr zu erzählen. Von gut ausgebildeten haitianischen Ärzten, die in ihrem Heimatort alles tun, die medizinische Versorgung zu verbessern. Von einheimischen Soziologen, die sich bemühen, die Verwaltung näher an die Bürger zu holen; von bildenden Künstlern und Schriftstellern. Haiti hat eine reiche literarische Tradition, die wir kaum kennen.
Zu ihr gehört Lyonel Trouillot. Sein Buch Die schöne Menschenliebe erzählt von Anaïses Besuch in Thomas‘ Dorf, das einem Paradies gleicht. Es ist ein paradiesischer Ort voller Freundschaft, Gemeinsinn und Zärtlichkeit – und zugleich, zusammen mit der lärmenden Hauptstadt Port-au-Prince, ein Abbild ganz Haitis und seiner Geschichte. In Trouillots Roman tauchen auf: sadistische Militärherrscher, skrupellose Geschäftsleute, Sextouristen und Helfer aus dem Ausland, die trotz ihres womöglich guten Willens kaum Verbesserung bewirken.
Das klingt deprimierend. Doch Trouillots poetische Sprache bewahrt die Geschichte vor zu viel Traurigkeit. Zumal sie optimistisch endet: mit einer Liebesnacht im Paradies. Die Zukunft Haitis, könnte sie womöglich so aussehen?
Eines meiner Lieblingsbücher aus Haiti ist von George Anglade. Es heißt: Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt? und ist eine typisch haitianische Polit-Satire, kurz und voller Spott auf die Herrschenden und ihre Verhältnisse. In dem Buch kommen, als sich der Irakkrieg der USA zum zehnten Mal jährt, ein paar Intriganten in Port-au-Prince auf eine aberwitzige Idee. Was, wenn man den reichen Nachbarn dazu bringen könnte, auch in Haiti einzumarschieren? Die Haitianer hoffen auf phänomenale Geschäfte, doch die Geschichte geht nicht gut aus.
George Anglade war ein Spezialist für solche überdrehte Satiren. Er starb in den Trümmern des Bebens vom 12. Januar 2010.
Ebenfalls empfehlenswert: Edwige Danticat, Der verlorene Vater. Erzählungen über einen Mann, der aus Haiti in die USA floh, angeblich auf der Flucht vor dem Diktator Duvalier – und der sich nach und nach als Täter entpuppt.
Und ein Sachbuch zum Schluss: Hans Christoph Buch, Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat. Für alle, die mehr über die Geschichte des Landes wissen wollen und darüber, warum die ehemals reichste französische Kolonie und das einzige Land, in dem sich die Sklaven selbst aus der Gewalt ihrer Herren befreiten, heute so arm ist. Buch beschreibt vornehmlich die Wurzeln der Unterentwicklung, die nichts mit dem Erdbeben zu tun haben. Das ist sehr lesenswert. Auch wenn gerade keine Katastrophe aus Haiti zu verkünden ist.