Schulmädchen in Haiti im November 2010

Schulmädchen in Haiti im November 2010

Wie viele sind umgekommen, als vor fünf Jahren in Haiti die Erde bebte? Vermutlich wird niemand es je genau wissen. Mehr als 230.000 waren es, sagen manche Quellen, die haitianische Regierung spricht von rund 316.000 Toten. Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Die Hauptstadt Port-au-Prince war größtenteils zerstört, und mit den Gebäuden brachen die schon vorher zerbrechlichen staatlichen Strukturen zusammen. Haiti, ohnehin eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, lag am Boden.

Die ausländischen Geldgeber und Helfer versprachen, alles wieder aufzubauen, und zwar besser als zuvor. Doch ihre Verheißung hat sich nicht erfüllt. Womöglich war die Haltung dahinter auch ein wenig zu paternalistisch.

Medienberichten zufolge sind heute zwar die größten Schuttberge aus Port-au-Prince verschwunden, und statt der anderthalb Millionen leben nur noch etwa 80.000 Menschen in Zeltlagern. Doch die anderen zogen nicht etwa weg, weil sie eine bessere Unterkunft fanden. Manche wurden einfach vertrieben, berichtet Chiara Liguori, eine Mitarbeiterin von Amnesty International in der Karibik, auf Al Jazeera. Andere hatten Glück und erhielten Mietzuschüsse, doch irgendwann wurden auch die gestrichen. Selbst aus Canaan, einem neuen Viertel vor den Toren der Hauptstadt, wo die damalige Regierung den Obdachlosen nach dem Beben Grundstücke zur Verfügung stellte, werden die Leute Liguori zufolge vertrieben.

Jochen Stahnke war für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Canaan. Die Siedlung sei erbaut auf den Gräbern der Erdbebenopfer, schreibt er.

Auf den Hügeln, auf dem Sand, überall stehen die Hütten. Mindestens zweihunderttausend Menschen kamen nach dem Beben her. […] Der damalige Präsident René Préval gab das Land, das jetzt Canaan heißt, zwei Monate nach dem Beben zur Besiedlung frei, ohne die obdachlos gewordene Bevölkerung in irgendeiner anderen Art zu unterstützen.

[…] Die Siedler in Canaan werden immer wieder von Spekulanten belästigt, die sich als Landbesitzer ausgeben und oft gut vernetzt sind. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat Hunderte Fälle von Zwangsräumungen dokumentiert, in denen Bewohner des Nachts mit Waffengewalt aus ihren Hütten vertrieben wurden. Auch die Polizei habe sich an „rechtswidrigen“ Zwangsräumungen beteiligt. Doch Recht ist in Haiti dehnbarer als Kaugummi.

Canaan könnte der nächste große Slum von Port-au-Prince werden:

„In Canaan wiederholt sich die ganze Geschichte von Cité Soleil“, sagt Charles Baker, ein haitianischer Fabrikbesitzer, der 2005 und 2010 zur Präsidentenwahl antrat. 2010 erhielten er und seine bürgerlich-konservative Partei „Respè“ (Respekt) offiziell knapp drei Prozent der Stimmen. Baker sitzt in seinem kargen Büro ohne Fenster unter Neonlicht neben seiner Textilfabrik in Port-au-Prince. Die Cité Soleil ist eines der berüchtigtsten Viertel der Hauptstadt. Sie wird von den übelsten Gangs Haitis kontrolliert und von der Polizei gemieden. Den Bewohnern bleibt nur die Selbstjustiz. Sie steinigen geschnappte Diebe und andere Kleinkriminelle, enthaupten sie oder verbrennen sie mittels über die Körper gestülpter Autoreifen, […] Baker sagt, Canaan werde bald ebenfalls als Slum enden. „Niemand kümmert sich um die Leute da oben.“

Die internationalen Geldgeber versprachen nach dem Beben rund 15 Milliarden. Ein Großteil wurde ausgezahlt – und landete offenbar in den Kassen der Hilfsorganisationen oder der ausländischen Firmen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren. Ein anderer Teil versickerte in dunklen Kanälen. Selbst ehemalige Freunde und Berater werfen dem Präsidenten Michel Martelly und seiner Regierung vor, sich zu wenig um die Opfer des Bebens zu kümmern. Am Wochenende kam es zu gewaltsamen Protesten, weil Martelly sich lange nicht mit der Opposition auf die eigentlich lange überfälligen Parlamentswahlen einigen konnte. Ohne die Ankündigung von Neuwahlen hätte der Präsident von heute an viele Entscheidungen per Dekret fällen können. Erst kurz vor Ablauf der Frist einigten er und seine politischen Gegner sich doch.

Was müsste geschehen, damit Haiti sich berappelt? Antworten sind schwer zu finden. Hans Christoph Buch kennt das Land schon lange. Nach dem Beben veröffentlichte er bei Wagenbach seinen lesenswerten „Nachruf auf einen gescheiterten Staat“. In der FAZ schrieb er vor einigen Tagen über die politische Dauerkrise, in der das Land seit dem Beben steckt. Am Ende kommt er doch zu einem bemerkenswert optimistischen Schluss:

[…], dass ein heruntergewirtschaftetes Land wie Haiti sich selbst helfen kann, statt seine Misere von UN-Beamten, Blauhelmsoldaten und Entwicklungshelfern mehr schlecht als recht verwalten zu lassen.