Thomas Piketty ist so etwas wie der Popstar unter den zeitgenössischen Ökonomen, und in Lateinamerika, wo der Wohlstand außergewöhnlich ungleich verteilt ist, finden seine Thesen besonders viel Zustimmung. Doch aus Chile kommt jetzt Widerspruch – und nicht etwa von rechts. Pikettys Kritiker ist ein Politiker und Ökonom, der sich selbst eine gerechtere Gesellschaft wünscht. Die Einkommensverteilung in Lateinamerika sei „auf skandalöse Weise ungleich“, schreibt Andrés Velasco in einem Text für die Meinungsseite Project Syndicate. Nur tauge die Politik, die Piketty vorschlage, nicht dazu, das zu verbessern.

Andrés Velasco stammt aus einer chilenischen Familie, die zu Zeiten der Pinochet-Diktatur ins Exil ging. Er wuchs in den USA auf und studierte dort Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Als Ökonom widmet er sich besonders Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, Ungleichheit und Industriepolitik. Unter der ersten Regierung von Michelle Bachelet wechselte Velasco aus der Forschung in die Politik; er wurde Bachelets Finanzminister – hochgelobt von Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Im vergangenen Jahr bewarb er sich gegen seine Ex-Chefin um die Präsidentschaftskandidatur. Als er unterlag, gründete er seine eigene Mitte-Links-Partei.

Velasco hat in den Daten der Weltbank gegraben, um seine Diagnose der skandalösen Ungleichheit zu belegen. Die Indikatoren, die er heranzieht, zeigen: Gemessen an der Bevölkerungszahl ist die Armut in den allermeisten Staaten Lateinamerikas geringer als in weiten Teilen Afrikas und Asiens – einmal abgesehen von Ausnahmen wie Nicaragua oder Haiti.

Ein Grund zur Freude ist das nicht. Für Velasco gilt als arm, wer weniger als vier Dollar pro Tag zur Verfügung hat. In Mexiko waren das 2010 (offenbar hat die Weltbank keine aktuelleren Daten) immer noch ein Viertel der Bevölkerung, in Bolivien 2008 fast die Hälfte, in Kolumbien 2010 noch 40 Prozent. Am besten schneiden ab: Argentinien mit knapp sieben Prozent im Jahr 2010 und Chile mit rund zwölf Prozent im Jahr 2009. Die Weltkarte unten (Disclaimer: mobil offenbar leider nicht sichtbar) zeigt, wie sich der Indikator in den vergangenen 30 Jahren verändert hat.

Weitere Infografiken belegen: In fast allen Ländern sinkt die Armut, aber die Einkommen bleiben relativ ungleich verteilt. Und Velasco vermutet, dass die Unterschiede zwischen arm und reich in Wahrheit noch größer sind als die offiziellen Daten glauben machen.



Die Gründe dafür seien jedoch ganz andere als jene, die Piketty in seinem Buch anführt, schreibt der Ex-Minister. Der Fairness halber muss man erwähnen, dass der Franzose vor allem Industriestaaten untersucht hat. Vermutlich sind dort die Verhältnisse einfach anders. Piketty zufolge wächst die Ungleichheit, weil Kapital mehr Einkommen bringt als Arbeit: Wer hat, dem wird gegeben – wer aber kein Vermögen besitzt, muss arbeiten und wird dafür auch noch vergleichsweise schlecht entlohnt. Deshalb fordert Piketty hohe Steuern auf Kapitaleinkünfte und Vermögen.

In Lateinamerika aber sei die Ungleichheit so groß, dass man die Steuern gar nicht in ausreichendem Maß erhöhen könne, ohne die Wirtschaft zu beschädigen, schreibt Velasco. Entweder reiche der Ertrag nicht aus, oder das Wachstum leide (als Beleg zitiert er dieses Paper des Weltwährungsfonds).

Vor allem aber würde eine Steuerreform an den Ursachen der Ungleichheit nichts ändern. Denn in Lateinamerika geht es nicht so sehr um die Unterschiede zwischen Arbeits- und Kapitaleinkünften. Vielmehr sind schon die Löhne und Gehälter extrem unterschiedlich, und das liegt an den großen Unterschieden in der Bildung. Gut ausgebildete Akademiker, die oft aus wohlhabenden Familien stammen und sich deshalb eine teure Privatuni oder ein Auslandsstudium leisten konnten, können hier sehr gut leben – ihre Hausangestellten zum Beispiel oder die ungelernten Arbeiter auf dem Bau verdienen nur einen Bruchteil ihres Gehalts. Und wer sich im informellen Sektor durchschlägt, lebt oft von der Hand in den Mund.

Velascos Lösung heißt deshalb: Eine gute Bildung für alle, mit einem starken Fokus auf die Berufsausbildung; dazu eine Industriepolitik, die Arbeitsplätze schafft; und ein deregulierter Arbeitsmarkt, der es ermöglicht, dass Fachleute und Jobs zusammenkommen. Das ist dann doch ein ziemlich marktliberales Rezept – aber dass das Bildungssystem in weiten Teilen des Kontinents in der Krise steckt, wird von kaum jemandem bestritten. Im jüngsten Pisa-Test der OECD, der die Fähigkeit prüfte, ganz alltägliche Probleme zu lösen, landete Kolumbien auf dem letzten Platz, und kein einziges der ebenfalls getesteten lateinamerikanischen Länder – Uruguay, Brasilien und Chile – schnitt gut ab.

Es gibt die These, dass die lateinamerikanischen Eliten gar kein Interesse haben, daran etwas zu verbessern: Indem die Politiker die Massen in Unwissenheit halten, sichern sie ihre Macht. Ich habe das bisher immer für eine Verschwörungstheorie gehalten. Aber die Unterschiede im Bildungsniveau sind beispielsweise hier in Kolumbien so offensichtlich und auch so riesig, dass ich mir da nicht mehr so sicher bin.

Immerhin: In Chile hat die Präsidentin gerade eine Reform eingeleitet, die allen Sektoren der Bevölkerung den Zugang zu unentgeltlicher, guter Bildung öffnen soll. Auch im kolumbianischen Wahlkampf wurde das Thema debattiert, wenngleich überlagert von der Diskussion um die Friedensverhandlungen mit der FARC. Doch selbst wenn es irgendwann Reformen gibt, die greifen: Bis sich die Einkommensverteilung dadurch nachhaltig verändert, wird es lange dauern.