Die Kolumbianer sind völlig aus dem Häuschen: Nairo Quintana hat das Radrennen Giro d’Italia gewonnen, und sein Landsmann Rigoberto Urán belegte den zweiten Platz. Seit Tagen war der Erfolg der beiden – neben den Präsidentschaftswahlen in zwei Wochen – das bestimmende Thema in den Nachrichten. Heute warf sich die Tageszeitung El Espectador in rosa Papier, noch bevor der Sieg Quintanas offiziell feststand, und Konkurrent El Tiempo tauchte das Logo seiner Homepage in rosa Farbe. Aus Quintanas Heimatdepartement Boyacá wird derweil eine neue Mode gemeldet: Die stolzen Bürger tragen die traditionellen Wollponchos der Region jetzt in rosa.
Die Freude ist groß, weil viele Kolumbianer sich in den Lebensgeschichten der beiden Radsportler wiederfinden. Sie nehmen dem Erfolg von Quintana und Urán als Zeichen dafür, dass man auch unter widrigsten Umständen etwas erreichen kann im Leben. Das beflügelt.
Quintana und Urán kommen aus einfachen Verhältnissen – und Urán hat die Gewalt des Bürgerkriegs erlebt, wie so viele hier. In einem Interview soll er sich einmal so beschrieben haben:
Ein Junge, dem alles Mögliche passiert ist, wie jedem anderen Kolumbianer auch; und der über sich selbst hinausgewachsen ist.
„Alles Mögliche“ heißt: Uráns Vater, ein Lotterielosverkäufer und begeisterter Radfahrer, wurde beim Training in den Bergen von Paramilitärs ermordet. Sein Sohn war da gerade 14. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er dessen Job, um die Familie zu ernähren. Radfahren war für ihn zunächst eine Art, den Vater zu ehren, später bekämpfte er durch den Sport seine Trauer.
Zu Nairo Quintana wird heute im Netz eine interessante Geschichte der Zeitung El País herumgereicht. Der Text ist schon fast ein Jahr alt, aber das nimmt ihm nichts von seiner Relevanz. Es ist ein Brief an den Präsidenten Juan Manuel Santos, der Quintana angeblich im Jahr 2010 versprach, ein Haus für seine Eltern zu bauen und ein Leistungszentrum für Radsportler gleich dazu. Nairo hatte da gerade ein Rennen gewonnen. Der Kollege Jorge Enrique Rojas schreibt (meine Übersetzung):
Ich erinner mich an sein (Nairos) Gesicht: Die Nervosität, die sich in glänzenden Schweißtropfen auf seiner Stirn sammelte, seine Augen, groß wie Suppenteller. Der Junge war glücklich. (…) Danach, Präsident, kamen weitere Versprechen. Man reichte ihn weiter von hier nach dort, stellte seinen Sieg aus wie eine eigene Leistung.
Der Journalist war fasziniert von der Hartnäckigkeit, mit der Nairo Quintana sich seinen Erfolg erkämpfte. Für seine Zeitung schrieb er ein Porträt über den Sportler, „Brief an Nairo“ war der Titel. Doch der hat den Text vermutlich nie gelesen:
Wissen Sie, warum ich das weiß, Präsident? Ein Tag nach der Veröffentlichung rief mich eine seiner Schwestern an und bat mich, ihr die Zeitung zu schicken, weil sie dort, wo die Familie lebte, unmöglich zu bekommen war.
Der Journalist schickte die Zeitung als Einschreiben, zweimal, und jedesmal kam die Sendung zurück.
Sie erklärten mir, dass sie das Haus nicht gefunden hatten. Dass es mit diesen Angaben – nach der Kurve von La Cantera, hinter dem Hügel von El Moral, fünfhundert Meter neben dem Kindergarten Pato Lucas – unmöglich sei.
Dies, Präsident, schien mir eine Metapher für dieses Land zu sein, das nicht weiß, wie seine Leute leben: in diesem Kolumbien, diesem Kolumbien ohne Adressen, wo nicht einmal Briefe ankommen, dort lebte unser Champion. Und dort lebt er immer noch. Ich habe es in diesen Tagen im Fernsehen gesehen: die Wände aus Lehmziegeln, der Boden aus Erde, das Dach kaputt. Deshalb schreibe ich Ihnen heute, Präsident.
Seither sind ein paar Monate vergangen, und vielleicht haben Nairo Quintanas Eltern heute ein stabileres Haus – möglicherweise auch bezahlt von ihrem Sohn. Genauso gut kann es aber sein, dass sie immer noch in ihrem Ziegelhäuschen leben. Und Politik wird immer noch auf die gleiche Art gemacht, die Rojas beschreibt. Der Kollege schließt:
Die Geschichte von Nairo ist die Geschichte dieses Landes. Es ist die Geschichte eines vergessenen Kampfes, und von Hunderten nicht erfüllter Versprechen. (..) Ich glaube: In diesem Moment, in dem man in Havanna über Waffenruhen, Sich-Ergeben und die Verteilung von Land verhandelt, wäre es eine klare Botschaft, diesem Jungen ein Haus zu geben. Man würde dadurch sagen, dass in diesem Land der Frieden wirklich wichtiger ist als der Krieg.