Nach monatelangen Protesten, bei denen Dutzende Menschen gestorben sind, scheint in Venezuela derzeit eine angespannte Ruhe zu herrschen. Warum, ist schwer zu sagen: Vielleicht, weil so viele Leute verhaftet wurden? Oder weil Studenten und Opposition so langsam die Kraft ausgeht, angesichts der Unachgiebigkeit der Regierung und eines Dialogs, der keine Bewegung bringt?
Es könnte die Ruhe vor einem erneuten Sturm sein. Venezuela steht an einem Wendepunkt, glaubt die International Crisis Group. Die sitzt eigentlich in Brüssel, aber ihre Analysten haben ein Büro hier in Bogotá und gute Kontakte ins Nachbarland. Vor ein paar Tagen haben sie einen Report zu Venezuela veröffentlicht.
Dessen zentrale Botschaft ist: Solange es keinen ernsthaften Dialog zwischen Regierung und Opposition gibt, werden die Probleme des Landes sich verschärfen.
Die Zahl der Todesopfer (der Unruhen) ist unakzeptabel hoch und gefährdet den sozialen Frieden. Ernsthafte Probleme, wie die kriminelle Gewalt und der bevorstehende wirtschaftliche Zusammenbruch werden nicht adäquat angegangen, weil das politische Drama alle Aufmerksamkeit beansprucht. Das Land muss dringend… einen Konsens darüber erreichen, wie es seine Zukunft gestalten will … Weder Regierung noch Opposition werden diese Krise alleine lösen können. (…) Wenn ihnen (der Dialog) nicht gelingt, und die Gewalt sich weiter ausbreitet, wird das ernsthafte Konsequenzen für die kurzfristige politische Stabilität Venezuelas haben … und auch die Stabilität seiner Nachbarländer beeinträchtigen.
Verhandlungen also. Das klingt vernünftig. Die Billiarden-Bolivares-Frage ist nur: Wie kriegt man einen ernsthaften, glaubwürdigen und offenen Dialog in einem so stark polarisierten Land wie Venezuela hin? Die Ursachen der Unversöhnlichkeit zwischen Regierung und Opposition liegen mindestens Jahre zurück – oder Generationen, je nach Sichtweise.
Die aktuelle politische Gewalt in Venezuela ist nur das neueste Kapitel in der Geschichte einer tief gespaltenen Geseltschaft, in der die meisten Akteure zum stetigen Niedergang der Demokratie beigetragen haben,
schreibt Oliver Stünkel, ein deutscher Politologe und Experte für Schwellenländer, der in São Paulo lebt und forscht. Nach dem gescheiterten Putsch gegen Hugo Chávez im Jahr 2002 habe sich die Polarisierung besonders verschärft, erklärt er und empfiehlt jedem, der Genaueres wissen will, dieses Buch.
Die Spaltung der Gesellschaft stand am Anfang der aktuellen Gewalt, und sie hat sich durch die Zusammenstöße noch verschlimmert. Wieder die International Crisis Group:
Die gewalttätigen Zusammenstöße … wurzeln tief im gegenseitigen Mißtrauen zwischen den Unterstützern und den Gegnern … von Hugo Chávez. Die Chavistas sehen die Anführer der Opposition als Repräsentanten einer abgesetzten ‚Bourgeoisie‘, die von Washington gestützt wird und darauf brennt, das (Vor-Chávez-)Regime wiederherzustellen, das durch weit verbreitete Armut, Korruption und soziale Ausgrenzung geprägt war. Die Opposition ihrerseits ist immer stärker davon überzeugt, dass die Regierung dabei ist, ein totalitäres, korruptes Politik- und Wirtschaftssystem aufzubauen, und dass man dem dringend Einhalt gebieten muss.
Vermittlung kann da wohl nur von außen kommen: von den Außenministern Brasiliens, Ecuadors und Kolumbiens, von anderen Regional- oder Weltmächten, oder von den Vereinten Nationen. Das klingt ziemlich mühsam. Und während die Diplomaten vermitteln, geht es der venezolanischen Wirtschaft immer schlechter, und die Kriminalität bleibt hoch. So scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die Proteste wieder losbrechen.