Saúl Luciano Lliuya hat RWE verklagt, weil der Konzern Kohle verfeuert und so die Erde anheizt. Eine deutsche NGO unterstützt ihn. Sie betreten rechtliches Neuland.

Saúl Luciano Lliuya fröstelt in der Winterkälte von Paris. Mit seinem Vater Julio steht er vor einem großen Zelt auf dem Flughafen Le Bourget, nordöstlich der französischen Hauptstadt. Beide haben eine Botschaft für die Delegierten, die auf dem offiziellen Gelände des Klimagipfels wenige Hundert Meter entfernt über ein neues Abkommen feilschen – und für Journalisten, die über die Verhandlungen berichten.

Saúl Luciano Lliuya ist Bauer und Bergführer in den peruanischen Anden, und er hat vor wenigen Wochen RWE verklagt. Als Produzent von Kohlestrom gehört RWE zu den Hauptverursachern des Klimawandels, der Luciano Lliuyas Heimat bedroht. Dafür soll der Konzern zahlen.

RWE sei für rund ein halbes Prozent aller seit Beginn der Industrialisierung weltweit freigesetzten Treibhausgasemissionen verantwortlich, erklärt die Organisation Germanwatch, die Luciano Lliuyas Klage unterstützt. An dem halben Prozent Anteil bemisst sich auch die geforderte Summe.

Das Haus der Familie von Luciano Lliuya liegt in der 55.000-Einwohner-Stadt Huaraz, unterhalb eines Gletschersees in einem Tal der Anden. Durch die Gletscherschmelze ist der See seit 2003 um mehr als das Vierfache gewachsen. Seine Dämme sind marode, aber den Behörden fehlt das Geld, um sie zu reparieren. Huaraz ist in Gefahr, von einer enormen Flutwelle überschwemmt zu werden.

„Wenn ich Touristen in die Berge führe, sehe ich, wie die Gletscher jedes Mal ein wenig kleiner geworden sind“, sagt Luciano Lliuya. „Das macht mich wütend.“ Er und seine Familie spürten den Klimawandel schon lange. „Der Regen kommt nicht mehr so verlässlich. Das gefährdet unsere Kartoffel-, Mais- und Quinoa-Ernte. Manche Tiere sind schon verschwunden: Vögel migrieren, und einen bestimmten Frosch gibt es gar nicht mehr.“

Natürlich würden er und seine Nachbarn sich anpassen, so gut sie könnten. „Aber wir haben keine andere Möglichkeit als die Landwirtschaft. Und spätestens wenn die Gletscher weg sind und es kein Trinkwasser mehr gibt, müssen die Leute weg.“

Lange hätten er und seine Familie überlegt, wie sie sich wehren könnten. Wen könnten sie für die Bedrohung zur Rechenschaft ziehen? „Große Staaten wie die USA? Das wäre unmöglich“, sagt Luciano Lliuya. Dann vermittelte ein Freund den Kontakt zu Germanwatch – und Luciano Lliuya hatte gefunden, was er gesucht hatte. Die Nichtregierungsorganisation unterstützt seine Klage gegen RWE aus Spenden, die sie eigens für den Fall sammelt. Auf dem Klimagipfel in Paris soll auch seine Geschichte einen Teil dazu beitragen, dass der Druck auf die Delegierten steigt, sich auf ein ambitioniertes Abkommen zu einigen.

Juristisch gesehen ist Luciano Lliuyas Klage einmalig. Bislang ist es noch niemandem gelungen, einzelne Konzerne vor Gericht für den Klimawandel verantwortlich zu machen. Doch Luciano Lliuyas Anwältin Roda Verheyen gibt sich zuversichtlich. Sie stützt sich auf den Paragraphen 1004 des Bürgerlichen Gesetzbuchs:

„Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen“, heißt es darin. Das gelte auch für Eigentum im Ausland, sagt Verheyen.

„Beseitigung der Beeinträchtigung“ – übersetzt aus dem Juristendeutsch bedeutet das: RWE soll den „gerechten Anteil“ der Kosten für die Staudammsanierung in Huaraz übernehmen. Das entspricht rund 20.000 Euro.

Noch ist nicht entschieden, ob das Landgericht in Essen, am Sitz von RWE, die Klage überhaupt annimmt. Der Konzern selbst teilt mit, man habe die Klageschrift noch gar nicht erhalten und könne sich deshalb auch nicht konkret zu ihr äußern. Generell sehe man aber „keine rechtliche Grundlage“ für Luciano Lliuyas Ansprüche, sagt ein Sprecher.

Schon in den 1990er Jahren hätten Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht die „Rechtsgrundlage für die Haftung einzelner Anlagenbetreiber in Bezug auf allgemein verursachte Luftverunreinigungen“ abgelehnt, argumentiert RWE. Zwar habe sich die Entscheidung auf Waldschäden durch sauren Regen bezogen. Doch für den Klimawandel müsse Gleiches gelten.

Anwältin Verheyen und Germanwatch ist bewusst, dass sie juristisches Neuland betreten. Doch sie sind getrieben von einer Idee: Wo bisher die Klimagipfel versagten, kann vielleicht der Rechtsweg helfen. Bisher haben alle Klimakonferenzen und die dabei geschlossenen völkerrechtlichen Verträge weder die Erderwärmung verhindern noch ihre Folgen vollständig abwenden können; und auch auf einen Mechanismus zum Ersatz von Klimaschäden – etwa durch die Gletscherschmelze und Fluten – haben die Delegierten sich noch nicht geeinigt. Auch in Paris wird über loss and damages wieder hart verhandelt.

Wo die Diplomatie nicht weiterkommt, muss eben das Recht ran: Das ist der Weg von Luciano Lliuyas Anwältin. „Es gibt viele Ansätze im bestehenden Recht, Staaten und Verursacher des Klimawandels zur Verantwortung zu ziehen“, sagt Verheyen; und wie sie denken zahlreiche andere Anwälte und Aktivisten, die sich 2002 im Climate Justice Programme zusammengeschlossen haben. Seither gehen sie überall auf der Welt juristisch gegen Unternehmen und Regierungen vor. Wer für den Klimawandel verantwortlich ist, soll zahlen, das ist ihr Grundsatz.

Einen Fall gegen die niederländische Regierung haben sie schon gewonnen. Vergangenen Juni verurteilte der Zivilgerichtshof Den Haag den Staat, die Emissionen der Niederlande bis zum Jahr 2020 mindestens um 25 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Grundlage dafür sei die niederländische Verfassung, sagten die Richter.

Gerade hat eine Menschenrechtskommission auf den Philippinen eine Beschwerde gegen große Öl- und Gaskonzerne angenommen. Die Kommission will prüfen, ob die Firmen Menschenrechtsverletzungen begingen, indem sie den Klimawandel vorantrieben. Für die Aktivisten ist das ein weiterer Erfolg.

Das Verfahren gegen RWE sei nun ein „Präzedenzfall“, sagt Verheyen. Würde der Konzern verurteilt, würden künftig wohl auch andere Geschädigte Klage gegen Firmen erheben, die ihr Geld mit fossiler Energie verdienen; und die Firmen müssten entsprechende Risiken in ihren Bilanzen berücksichtigen. Der Wertverlust wäre enorm – und der Ausstieg aus den fossilen Energien einen großen Schritt weiter.

Dennoch könne das Recht die Politik nicht ganz ersetzen, sagt der Germanwatch-Vorsitzende Klaus Milke: „Letztlich muss es eine politische Lösung geben, um die Verursacher des Klimawandels in die Pflicht zu nehmen.“ In Paris streiten er und seine Kollegen deshalb für ein möglichst ambitioniertes Abkommen: auf dem offiziellen Gipfelgelände, wo die Delegierten verhandeln, ebenso wie in dem benachbarten Zelt, in dem man Saúl Luciano Lliuya treffen kann.

„Ich hoffe, sie beschließen hier einen Vertrag, der die Erderwärmung stoppt“, sagt der Peruaner. „Ich treffe hier viele Menschen, die den Klimawandel wichtig nehmen. Wenn ich wieder zu Hause bin, kann ich den Leuten sagen: Es ist möglich, sich zu wehren. Und hoffentlich gibt es Gerechtigkeit.“

Ursprünglich erschienen auf ZEIT ONLINE