In Europa redet keiner mehr vom famosen Dritten Weg, den einst Tony Blair und Gerhard Schröder beschreiten wollten. In Deutschland hat das vermutlich auch mit den ungeliebten Hartz-Reformen Schröders zu tun. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos aber holt das alte Konzept jetzt wieder aus der Mottenkiste.

Kurz nach seiner Wiederwahl lud er zu einer Konferenz über den Dritten Weg in die Karibikstadt Cartagena. Es kamen fünf ehemalige Staats- und Regierungschefs, die schon seit Jahren nicht mehr im Amt sind, die aber alle irgendwie für eine Politik zwischen Markt und Staat stehen: Tony Blair, Bill Clinton, Fernando Cardoso aus Brasilien, Ricardo Lagos aus Chile und Felipe González aus Spanien.

Santos hat vor drei Tagen seine zweite Amtszeit angetreten. Der Dritte Weg, der einst erdacht worden war, um die Sozialdemokratie besser an die Erfordernisse des freien Marktes anzupassen (eine Reaktion auf die Politik Margaret Thatchers und Ronald Reagans), soll ihm helfen, Kolumbien moderner und gerechter zu machen – und dadurch letztlich friedlicher, so lautet das Versprechen. Aber lässt sich ein Konzept aus dem alten Europa so ohne Weiteres auf Lateinamerika übertragen? So mancher hat da Zweifel.

In der Tageszeitung El Espectador erschien an diesem Wochenende ein Text des Harvard-Politologen James A. Robinson (der James A. Robinson, der mit dem Ökonomen Daron Acemoglu das Buch „Warum Nationen scheitern“ geschrieben hat). Er beschreibt ziemlich eindrücklich, warum die Idee eines Dritten Weges für Kolumbien Quatsch ist.

Robinson ist an die kolumbianische Pazifikküste gefahren, genauer: nach Las Bocas de Curay in der Gemeinde Tumaco, Departement Nariño. Er beschreibt, wie weit die Realität dort von Santos‘ Ideen entfernt ist. Ein paar Auszüge seines Textes (meine Übersetzung):

Las Bocas de Curay liegt nicht isoliert… es befindet sich vielmehr nur eine halbe Stunde Bootsfahrt vom zweitgrößten Hafen der Pazifikküste entfernt. Trotzdem gibt es in dem Ort weder Wasser- noch Abwasserrohre. Es gibt ein Gesundheitszentrum, aber als ich dort war, war es geschlossen, und die Leute sagten mir dass die Verantwortlichen in Tumaco leben und aus politischen Gründen ernannt wurden, deshalb tauchen sie nur selten auf. Es gibt einen Stromgenerator,… aber von dem Brennstoff, dass sie vom Staat erhalten müssten, kommt nur ein Teil an. Der Ort ist den Kräften des Meeres völlig ausgeliefert. … Eine einfache Schutzmauer würde das Problem lösen, aber die Gemeinde hat keine Mittel, um sie zu bauen, und das ist genau die Art grundlegende Infrastruktur, zu deren Bereitstellung der kolumbianische Staat unfähig zu sein scheint. Hier gibt es keine Präsenz des Staates…

Und weiter:

Kolumbien ist, was die Politologen eine „repräsentative Demokratie“ nennen, in der jene, die gewählt werden – zum Beispiel der Bürgermeister von Tumaco oder der Gouverneur von Nariño – die Bürger repräsentieren und ihnen Rechenschaft ablegen sollten. Aber in Bocas del Curay gibt es weder Repräsentation noch Rechenschaft.

Damit trifft Robinson den Kern, scheint mir: Das Hauptproblem Kolumbiens ist es nicht, die richtige Balance zwischen Markt und Staat zu finden – sondern die große Zahl der Kolumbianer, die überhaupt keine Chance haben, Einfluss zu nehmen auf die Umstände, unter denen sie leben. Und eine Elite, die das nicht einmal zu bemerken scheint. Noch einmal Robinson:

Der Dritte Weg ist eine Reihe von politischen Optionen für ein demokratisches Land mit einem modernen Staat. Kolumbien ist weder das eine noch das andere. Seine Demokratie ist von bemerkenswert niedriger Qualität, zerbrochen durch Betrug, Gewalt, Klientelismus und Stimmenkauf, und all das zerstört die Verbindung von Kontrolle zwischen Bürgern und „Repräsentanten“. (…)

Es gibt keinen besseren Ausdruck der Probleme Kolumbiens als die in der Spitze und der Basis (seiner Gesellschaft) herrschende Exklusion. Eine Elite, die so wenig Verbindung zur realen Gesellschaft hat, dass sie keine Steuern zahlen will… Die OECD berichtet, dass die zehn Prozent der Ärmsten der Bevölkerung 4,5 Prozent ihrer Einkommen an Steuern zahlen, während die zehn Prozent der Reichsten 2,8 Prozent zahlen. … Zur gleichen Zeit stellt sich diese Elite vor, dass sie ein nahezu modernes Land verwaltet, und spielt mit Ideen wie der des Dritten Weges. Es ist kein Wunder, dass der magische Realismus in Kolumbien erfunden wurde.

Harte Worte. Für Kolumbien gebe es keinen Dritten Weg, bloß die Dritte Welt, schreibt Richardson noch. Was die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand in den städtischen Zentren angeht, mag er Unrecht haben. Aber auf die politischen Strukturen, die er beschreibt, trifft die Diagnose wohl zu.